"Wenn es nicht geht, dann ist das nicht deine Schuld"

Belastungsschutz für die Beschäftigten in der Netztechnik eines Telekommunikationsunternehmens

Beschäftigte: ca. 2.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; Initiator: Betriebsrat

Während - auch durch den demografischen Wandel angeregt - immer mehr über alter(n)sgerechtes Arbeiten und Gesundheitsprävention gesprochen wird, berichten Beschäftigte von entgegengesetzten Entwicklungen an ihren Arbeitsplätzen. Die Belastungen nehmen durch Arbeitsverdichtung sogar immer mehr zu und der Stress, der daraus resultiert, dass die Arbeit mit der festgelegten Mitarbeiterzahl in der vorgegebenen Zeit gar nicht zu schaffen ist, ist für viele Beschäftigte psychische Belastung Nummer Eins. Alter(n)sgerecht ist Dauerstress schon deshalb nicht, weil er zu schwerwiegenden Erkrankungen führt. Wie kann ein Schutz der Beschäftigten gegen diese Belastungen aussehen, solange die ursächlichen Probleme noch nicht beseitigt sind? Welche Kombination von Aktivitäten ist in einer solchen Situation hilfreich?


Der wunde Punkt

"Das ist genau der wunde Punkt: Seminare zur besseren Bewältigung von Stress auf der Arbeit ändern nichts an der ungenügenden Personalausstattung. Wir kämpfen seit Jahren, ohne an dieser Stelle etwas ändern zu können: Die Personalzahlen sind zentrale Vorgaben, die seien nicht änderbar."*1

Die Beschäftigten sind konfrontiert mit vorgegebenen Zahlen für eine theoretische Arbeitsplanung - während die Arbeitsabläufe in der Realität ganz anders aussehen. Da sind auf den Baustellen andere Verhältnisse vorzufinden, als dies in den Planungsunterlagen angegeben ist, es kommt immer wieder Unvorhergesehenes dazwischen, dann wiederum klappt die Zusammenarbeit mit Fremdfirmen nicht. Oder in der Software ist das, was real zu tun ist, nicht hinterlegt, so dass die Technik oft mehr Schwierigkeiten bereitet, als bei der Dokumentation zu unterstützen. Weitere Belastungen ergeben sich zusätzlich durch häufige Änderungen der Arbeitsabläufe. Nochmals zusätzlicher Druck kommt von unzufriedenen Kunden, die für all dies wenig Verständnis haben. In Summe führt dies zu einer Überlastung aller Beschäftigten, egal ob in Montage, Betrieb und Störungsbeseitigung oder in Planung, Projektierung und Baubegleitung.

"Wir haben mit den Kollegen geredet und gesagt Geh zu deinem Vorgesetzten, frage nach den Prioritäten. - Das bringe nichts, der erzähle jede Woche was Anderes, hieß es." Letztendlich hat jeder allein versucht mit der nicht tragbaren Arbeitssituation klarzukommen.

Der Arbeitgeber sah keinen Handlungsbedarf. Bei der jährlichen Mitarbeiterbefragung vor vier Jahren antworteten immerhin 64 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sie könnten ihr Arbeitspensum gut bewältigen, nur 13 Prozent verneinten dies. Die restlichen 23 Prozent hatten 'teils teils' geantwortet. Das seien doch gute Zahlen, da seien doch keine Probleme, hieß es vom Arbeitgeber. "Das konnte so nicht stimmen, wir haben vor Ort ganz Anderes mitbekommen. Wir haben dann tagelang dagesessen und die Zahlen auseinander genommen, bis wir sie konkret runtergebrochen hatten auf die einzelnen Teams." Bei sechs der Teams in der eigenen Organisationseinheit ergaben sich Zahlen, die signifikant auf eine Überlastung hinwiesen, so etwa an einem Standort, wo nur 24 Prozent angaben, sie könnten ihr Arbeitspensum bewältigen, aber 35 Prozent, dass sie es nicht schaffen.

"Da wir an den Personalkapazitäten selbst nichts ändern konnten, war unsere Zielrichtung ein möglichst guter Belastungsschutz. Wir wussten, dass dies das Maximale ist, was wir für die Beschäftigten tun können."

Trotzdem handeln

In einer Betriebsversammlung machte der Betriebsrat die Überlastung und die eigene Auswertung der Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung zum zentralen Thema. In der Aussprache nach dem Bericht stand dann ein Kollege auf und erzählte spontan, wie es ihm mit der Arbeitslast geht und dass er in ärztlicher Behandlung wegen des Dauerstress sei. Die gesamte Betriebsversammlung reagierte darauf mit stehendem Applaus. Das Problem der Überlastung war damit aus der Anonymität herausgeholt. Lange noch nach der Betriebsversammlung war der Tenor in unzähligen Gesprächen: „Wir kriegen’s nicht mehr hin.“

Das war auch eine Erleichterung für das weitere Engagement des Betriebsrates. Der setzte dann im Arbeitskreis Gesundheit durch, dass durch die Berufsgenossenschaft in den Problembereichen, die durch die runtergebrochenen Zahlen identifiziert waren, eine genauere Untersuchung durchgeführt wurde. Diese detaillierte und vertrauliche Mitarbeiterbefragung der Berufsgenossenschaft fragte nach Arbeitsinhalten und -organisation, Arbeitsmitteln, Führung und Arbeitsklima.

Die detaillierten Ergebnisse in den sechs Teams waren z. T. erschreckend. Nicht allein, dass 95 Prozent sagten, die Zeit reiche nicht aus, die Arbeitsmenge zu bewältigen. In mehreren Fällen gab es Hinweise darauf, dass die Beschäftigten Psychopharmaka einnahmen, um ihre Arbeit bewältigen zu können. "Das könnte die Erklärung dafür sein, dass die Krankenstände nicht signifikant erhöht waren. Auch dies war immer ein Argument des Arbeitgebers gewesen, dass ja kein Handlungsbedarf bestehen würde."

Anderes war positiv, so wertschätzten 80 Prozent an ihrer Arbeit die interessanten Inhalte und das hohe Maß an Selbstständigkeit. Bis auf die Software seien die Arbeitsmittel einwandfrei. Insgesamt überwog jedoch in nahezu allen Unterpunkten das klare Ergebnis, dass die Arbeitssituation eine beständige Überlastung der Beschäftigten war: Mit der Folge von ständigem Dauerstress, der selbst in der Freizeit nicht abgebaut werden konnte. Termindruck, hoher Arbeitsanfall und Personalmangel führten dazu, dass es keine Kapazitäten für Vertretungen gab oder für die Einarbeitung bei der Übertragung neuer Aufgaben. Das Missverhältnis von Arbeitsmenge und Arbeitszeit zeigte sich auch bei den Arbeitspausen: Sie wurden zu wenig gemacht oder nebenbei im Auto, oft kam es zu Pausenverzug - je nach den Vorkommnissen bei den Projekten. Belastend war auch, dass keine Perspektive bestand, die aufgelaufenen Überzeiten abzubauen.

Die direkten Führungskräfte wurden weniger als Problem eingestuft: Die jeweilige Kontrolle sei nicht gängelnd. Die überwiegende Anzahl der Befragten sah es so, dass sie mit ihren Ideen Gehör bei ihren Vorgesetzten fänden. Zugleich wurde jedoch eingeschränkt: Dass es trotzdem aussichtslos sei, denn die Führungskräfte selbst könnten nach oben hin Probleme nicht melden und folglich nichts an der Situation ändern.

In Summe zeigten die Ergebnisse der Untersuchung der Berufsgenossenschaft eindeutig und undiskutierbar, dass Handlungsbedarf bestand. An der Personalausstattung änderte der Arbeitgeber - wie zu erwarten - nichts. Er führte Besprechungen in den besonders belasteten Bereichen durch, um die Situation genauer zu analysieren.

Für die Software wurden Schulungskonzepte entwickelt und Schulungen durchgeführt. Auch dies hatte die Untersuchung der Berufsgenossenschaft gezeigt: Ein sehr hoher Anteil der Beschäftigten hatte sich bis dahin das für die Benutzung notwendige Wissen autodidaktisch beigebracht. Inzwischen ist das Angebot an Software-Schulungen weiter ausgebaut worden: Hier hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ‚learning by doing’ zu unterschiedlichem Wissenstand und zu Stress bei den Beschäftigten führt, der vermeidbar ist.

Statt der üblichen Hotline-Nummern wurden nun direkte Ansprechpartner für verschiedene Probleme benannt und bekannt gemacht. Aufgelaufene Arbeiten und der Überzeiten wurden durch Fremdvergabe gelöst – dies ist noch heute so.

Für die Teams wurden außerdem Trainingsmaßnahmen durchgeführt, die dem Erlernen von besseren Bewältigungstechniken im Umgang mit Stress dienen: Von Arbeitsorganisation bis hin zu Entspannungstechniken, von der Überprüfung der subjektiven Erwartung an die eigenen Arbeitsergebnisse, insbesondere die Menge, bis hin zur klareren Abgrenzung von Arbeit und Freizeit. In einem Nachbereitungsworkshop wurde dann auch geschaut, wie das Gelernte in der täglichen Praxis angewendet wird.

>h2>Diese Furche ist gezackert Dieses Bündel an Maßnahmen hat für die Beschäftigten Einiges gebracht, dies äußern sie selbst immer wieder. Die Grundsituation der zu knappen Personalausstattung aber besteht weiterhin. Und die Frage, aus der sich die Zahlen für die Arbeitsbelastung herauslesen ließen, war bei der nächsten Mitarbeiterbefragung vom Arbeitgebergestrichen worden.

Was hat dennoch dazu geführt, dass sich die Beschäftigten heute trotzdem besser gegen die Belastungen schützen können?

Der bessere subjektive Umgang mit der Arbeitsmenge, vor allem der unerledigten Arbeit, und eine deutlichere Abgrenzung von Arbeits- und Privatleben, das ist sicherlich hilfreich, um mit Stress besser umgehen zu können - aber nicht ausreichend. "Das Entscheidende ist die Diskussion im Betrieb. Auf Betriebsversammlungen trauen sich die Leute jetzt offen zu sagen, dass sie mit dem Arbeitspensum nicht klar kommen. Das ist kein individuelles Problem mehr."

Einen besseren Schutz vor Belastung ergibt dies aber nur, wenn sich die Beschäftigten tatsächlich abgrenzen können: Nicht allein auf einer Ebene des Umgehens mit den Belastungen, sondern real gegen die Arbeitsmenge. Einerseits war das ein Lernprozess, in vielen Einzelgesprächen und mehreren Betriebsversammlungen. Die Erkenntnis: "Du bist nicht die Firma, du musst das nicht ausgleichen, was an der Arbeitsplanung nicht stimmt. Wenn es nicht geht, dann ist das nicht deine Schuld." Jedem Einzelnen und allen gemeinsam muss klar sein: Arbeit bleibt liegen, wenn sie nicht zu schaffen ist.

Andererseits ist so eine Abgrenzung nur möglich, wenn die Arbeitszeiten nicht mehr ausufern können. Der Betriebsrat macht seit drei Jahren ein monatliches Monitoring der Arbeitszeiten. Er achtet streng darauf, dass es zu keinen Überschreitungen der gesetzlichen Zehn-Stunden-Grenze kommt und die Ausgleichszeiten zeitnah liegen. Er hat durchgesetzt, dass die Gleitzeitkonten nur noch wenige Überstunden enthalten dürfen. Die Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber gingen bis vor Gericht. Inzwischen achten auch die direkten Führungskräfte verstärkt auf die Arbeitszeiten. Die Stunden unmittelbar zu managen und gar nicht erst auflaufen zu lassen, bereitet deutlich weniger Arbeit als immer wieder Abbaupläne zu entwickeln und zu koordinieren.

"Wir wissen, dass all dies nicht die Lösung des eigentlichen Problems ist: Der unzureichenden Personalkapazität für den realen Arbeitsanfall. Aber wir wollten etwas machen, auch wenn wir das Hauptproblem nicht lösen können. Dass sich die Beschäftigten besser schützen können, um nicht krank zu werden. Natürlich ist das ein fortlaufender Prozess. Diese Furche ist gezackert. Die Überlastung wird weiter ein zentrales Thema in der Betriebsratsarbeit und auf Betriebsversammlungen bleiben. Wir kontrollieren die Arbeitszeiten und schreiten gegebenenfalls ein. Und sorgen dafür, dass es weiterhin Seminare zur Stressbewältigung gibt. Auch wenn die allein nicht helfen: Durch die Summe der Aktivitäten und vor allem durch das gemeinsame Bewusstsein, dass es kein individuelles Problem ist, wenn die Arbeitssituation belastet, und dass es nicht die Aufgabe des Einzelnen sein kann, das zu lösen, geht es den Leuten jetzt besser."

Plus-Punkte für Gute Arbeit:

*1 Sämtliche Zitate aus dem Betrieb.


Schlagworte zu diesem Beitrag: Arbeitsintensität, Kollegialität, Telekommunikation, Informationstechnologie